Oekologische Beratung

Markus Baggenstos
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Zwei Neufunde der Nidwaldner Haarschnecke Trochulus biconicus Eder 1917 (vormals Trichia biconica) am Schwalmis (Kanton Uri) und auf dem Widderfeld (Kanton Obwalden)

Ein Erlebnisbericht von Markus Baggenstos

Diaschau Neufunde Nidwaldner Haarschnecke «Die Nidwaldner Haarschnecke gibt es sonst nirgends auf der Welt» betitelte die Zeitung «Das Vaterland» 1991 einen Beitrag von Dr. Hans Turner über diese seltene Schneckenart. Seit ihrer Entdeckung durch den bekannten Basler Naturforscher Leo Eder im Jahr 1916 wurde die seltene Art von Generationen von Schneckenforschern an vielen anderen Örtlichkeiten vergeblich gesucht. Es dauerte fast neunzig Jahre, bis zwei weitere Populationen dieser Art am Schwalmis im Kanton Uri und am Widderfeld im Kanton Obwalden gefunden wurden.

Als einziger Innerschweizer, der beim Projekt des BUWAL zur Erneuerung der Roten Liste der Landschnecken mitarbeitet, wurde ich während der Ausbildung zur Feldarbeit im letzten November oft auf den einzigen bisher bekannten Fundort der Nidwaldner Haarschnecke am Chaiserstuel angesprochen. Um den genauen Standort und die nur einige Hektaren grosse Ausdehnung der Population näher kennenzulernen, besuchte ich den Chaiserstuel im Herbst 2004. In den Blaugrashalden unterhalb des Gipfels auf 2350 Meter über Meer fand ich dann praktisch alle Angaben, die über die Art aus der Literatur bekannt sind, bestätigt.

Auffällig war die hohe Individuendichte unter flachen Steinplatten, die den Schnecken nicht nur als Schutz, sondern vermutlich auch als Wärmespeicher dienen. Als ich den Standort ein weiteres Mal auf einer Skitour besuchte, war ich überrascht, dass am 16.1.2005 just jener Teil der Blaugrasrasen mit der höchsten Individuendichte praktisch schneefrei war. Dieser Umstand und die Tatsache, dass unter uns ein Nebelmeer lag, bewogen mich, mir an Ort und Stelle einige Gedanken zu möglichen weiteren Vorkommen dieser Art zu machen.

Schon L. Eder, der Entdecker der Art, hat in seiner Erstbeschreibung die Hypothese aufgestellt, dass es sich bei der neuen Art um eine sogenannte Mikroendemitin handelt. Unter Mikroendemismus versteht der Biologe das Phänomen, dass eine Pflanzen- oder Tierart auf einen sehr kleinen Raum beschränkt ist. Bei Endemiten handelt es sich oft um Restpopulationen von Arten, die in früheren Zeitaltern viel weiter verbreitet waren. Infolge geänderter Umweltbedingungen (zum Beispiel Klimaschwankungen, die Einwanderung von Feinden, etc.), können sie nur noch ein kleines Areal behaupten, wo die natürlichen Bedingungen gerade noch so günstig sind, dass ein Überleben ermöglicht wird. Die Hypothese bei der Nidwaldner Haarschnecke besagt nun, dass sie zu Beginn der Eiszeiten nicht wie die meisten übrigen Schnecken in wärmere Lagen ausgewandert ist, sondern dass sie sich auf eisfreie, klimatisch günstige Gipfelregionen der Voralpen zurückgezogen hat. Die Situation auf der Skitour mit dem Nebelmeer und den aperen Gipfelregionen simulierte also exakt die Situation der Eiszeiten, und ich überlegte mir, wo in den umliegenden Bergen die Haarschnecke während der Eiszeit wohl noch überlebt haben könnte. In meinem Kopf formierte sich so eine Liste von möglichen Standorten, die es bei Gelegenheit abzusuchen galt. Dabei kam mir der Umstand zu Hilfe, dass ich seit über zwanzig Jahren bei zahlreichen vegetationskundlichen Kartierungen gelernt hatte, die spezifischen Umweltbedingungen von Pflanzen und Tieren an einem bestimmten Standort genau zu studieren und sie an anderen Orten wieder aufzuspüren. Insbesondere die Mitarbeit in den Jahren 1987-89 bei der Erhebung des Inventars der Gletschervorfelder und alpinen Schwemmebenen von nationaler Bedeutung hatte mir den Blick für die Erfassung und Beurteilung von alpinen Mikrostandorten entscheidend geschärft.

Die Entdeckung der neuen Population der Nidwaldner Haarschnecke kann demnach nicht mehr als ganz zufällig eingestuft werden. Trotzdem war es die kurzfristig angesagte regnerische Wetterprognose für die Alpensüdseite, die mich und meine Freundin auf einer Reise in den Tessin spontan bewog, das Wochenende im Isenthal im Kanton Uri zu verbringen. Zwar lag Ende Mai im schattigen Tal noch viel Schnee, aber die sonnige Südseite des Schwalmis lockte uns zu einer Frühjahrswanderung. Beim Aufstieg mussten wir feststellen, dass in den flachen Alpweiden noch viel Schnee lag. Nur die wärmsten Stellen entlang der anstehenden Felsen waren aper und standen im schönsten Bergfrühling. Da erinnerte ich mich an die Überlegungen auf der Skitour im Winter, und wir begannen nach geeigneten Lebensräumen der Haarschnecke zu suchen. Auf 2100 m war es dann soweit. Rund fünf Kilometer vom ursprünglichen Lebensraum entfernt und durch das Isenthal getrennt, stiessen wir auf eine neue Population der berühmten Mikroendemitin. Auch hier klebten die Haarschnecken in hoher Dichte unter losen Steinplatten. Sogar eine stattliche Anzahl Jungtiere wurde beobachtet. Eine umfassende Feststellung der Ausdehnung der Population war wegen den noch vorhandenen Schneefeldern jedoch nicht möglich. Doch auch hier vermuteten wir, dass die Population nur ein sehr kleines Areal um den Schwalmisgaden besiedelt, denn weder auf dem Gipfel noch auf der Nordseite fanden wir die seltene Art.

Angespornt durch den sensationellen Fund unternahmen wir einige weitere Bergtouren, bei denen wir jedoch nicht fündig wurden. Am 3.7.2005 besuchten wir das Widderfeld, das rund elf Kilometer vom Chaiserstuel entfernt zwischen dem Engelberger- und dem Melchtal liegt. Nach intensiver Suche fanden wir, wiederum etwas unterhalb des Gipfels, auf 2300 Meter über Meer, zahlreiche lebende Individuen und eine grosse Anzahl leerer Gehäuse. Das Areal dieser dritten Population ist nach unseren ersten Beobachtungen sehr klein. Es beschränkt sich vermutlich auf zwei, höchstens drei Hektaren.

Die drei bis heute bekannten Lebensräume der Nidwaldner Haarschnecke weisen zahlreiche Parallelen auf und bestechen durch ihre Ähnlichkeit. Damit scheint sich die Vermutung zu bestätigen, dass die Art tatsächlich ein eiszeitlich bedingtes, endemisches Vorkommen aufweist und zudem auf einen ganz bestimmten Standorttyp angewiesen ist. Alle bisherigen Fundorte liegen auf der Sonnenseite zwischen 2100 und 2350 Meter über Meer. Beim Untergrund handelt es sich um plattig verwitternden Kalkstein. Die Vegetationsdecke ist lückig und wird vom Blaugras, Sesleria caerulea (L.) ARD., beherrscht. Stark geschlossene Vegetation, reine Schutthalden und Standorte mit langer Schneebedeckung werden gemieden. Vor allem müssen offenbar genügend Deckungsmöglichkeiten durch Kalksteinplatten vorhanden sein. Vielleicht spielen die Steinplatten tatsächlich eine entscheidende Rolle. Sie bilden den notwendigen sommerlichen Wärmespeicher, um das Aufwachsen der Jungtiere zu ermöglichen, und sie geben den nötigen Schutz vor sommerlicher Austrocknung während den Schönwetterperioden. Die abgeflachte, doppelkegelförmige Gestalt des Gehäuses scheint geradezu eine Anpassung an das Leben unter Steinplatten darzustellen.

Auch nach den zwei Neufunden bleibt die Nidwaldner Haarschnecke eine seltene Art, die wegen ihrem äusserst kleinen Verbreitungsgebiet zu Recht auf der Liste der geschützten Tiere im Anhang 2 der NHV aufgeführt ist. Das Aussterben dieser Art muss unbedingt verhindert werden. Doch noch immer wissen wir eigentlich sehr wenig über die Biologie dieser Art. Da alle drei bekannten Lebensräume teilweise beweidet werden, scheint die extensive Beweidung die Art nicht zu gefährden. Sicher würden touristisch bedingte Terrainveränderungen oder eine Intensivierung der Beweidung, bei der die offensichtlich notwendigen Steinplatten entfernt würden, zum Aussterben der Reliktlebensräume führen. Zu hoffen ist, dass die zwei Neufunde dazu führen, dass die zuständigen Fachstellen des Naturschutze diese Reliktlebensräume durch entsprechende Artenschutzprogramme sichern werden, und dass junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler angeregt werden, sich der Erforschung dieser geheimnisvollen Art zu widmen.

Literatur: